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STAY IN TOUCH 7

Stay in touch ist eine Kollaboration der Kunstuniversität Linz, Abteilung Kulturwissenschaft mit dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK), der Zeitschrift für Kulturwissenschaften, dem ilinx-Magazin und weiteren Partnerinstitutionen. Es wird eine Bibliothek von Texten zusammengestellt, die dabei unterstützen, einen solidarischen und informierten Umgang mit der Pandemie zu finden. Es werden klassische und aktuelle Texte aus 2500 Jahren kommentiert und zur Verfügung gestellt. stay-in-touch.org
Diese Woche:

1984 — »Wir sind zahlreicher, als wir dachten«

Bruno Latours »Pasteurisation of France«
wiedergelesen
Von Frédérique Aït-Touati
Die Kriegsmetapher für Pandemien ist nicht neu und hat strenggenommen wenig mit dem Einsatz von Waffengewalt zur Überwachung der Bevölkerung oder mit der Schließung von Grenzen zu tun. In Frankreich wurde die Metapher im Zusammenhang mit der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts und infolge der französischen Niederlage im Krieg gegen Preußen 1870 geboren. Der »Krieg« gegen die Mikroben bedeutete zunächst eine gewaltige Bewegung, die Medizin, Forschung, Bildung und massive öffentliche Investitionen miteinander verband. Bruno Latour veröffentlichte 1984 sein wichtiges Buch Les Microbes. Guerre et Paix (Die Mikroben. Krieg und Frieden). Darin erfahren wir, wie das Erscheinen eines bisher unbekannten Wesens auf der wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bühne innerhalb weniger Jahre dahin geführt hat, Europas Existenzbedingungen radikal zu verändern. Es ist die Geschichte eines Kampfes, eines erbarmungslosen Krieges gegen eine unsichtbare Geißel. Machtverhältnisse, Bewährungsproben, Verrat, Schlachten, Siege, Duelle, Hetzreden, Allianzen, territoriale Kontrolle. Die Mikroben. Krieg und Frieden ist ein Epos. (…) Das Buch erzählt die Entdeckung der Mikroben als zunehmend unausweichliche Aktant, welche die Menschheit zerstören: »Hier sind die Akteure. Sind sie menschlich oder unmenschlich? Nichtmenschlich. Was wollen sie? Das Böse. Was tun sie? Hinterhältig lauern. Wie lange lauern sie uns schon auf? Seit jeher. Was zum Teufel ist gerade passiert? Ein Ereignis. Sie werden sichtbar. Wer macht sie sichtbar? Die Wissenschaft; ein weiterer Akteur, der wiederum in den gleichen Begriffen erfasst und definiert werden muss.« Schauspieler auf einer Bühne: Die Theatermetapher hat hier nichts Zufälliges. Man muss ihr nachgehen, um zu versuchen zu verstehen, wie das Buch seinen Gegenstand inszeniert und damit den Begriff des »Nichtmenschlichen« in die intellektuelle Szene der 1980er Jahre einschleust. Um die Bedeutung des Auftauchens dieser neuen Akteure, der Mikroben, ermessen zu können, müssen wir, wie Latour vorschlägt, ein wenig tiefer in die Geschichte eintauchen. Das große politische, soziale und medizinische Thema der 1870er Jahre war die Regeneration Frankreichs: Es braucht kräftige Menschen. Man kann nicht weiterhin arme, unglückliche und kranke Leute in den Städten ausbeuten. Hygiene ist das große Anliegen des 19. Jahrhunderts. Es ist ein Kampf, der an mehreren Fronten ausgetragen wird. Latour diskutiert diese historiographische Prämisse nicht, er greift sie auf und erweitert sie. Das Buch erzählt, wie sich die Hygienebewegung ein Jahrhundert lang im Kampf gegen einen Feind erschöpft hatte, der unsichtbar blieb, weil er nicht verortbar war und von einer zu großen Menge an Ursachen abhing. Der damalige Hygieniker wollte »auf die Ernährung, die Stadtplanung, die Sexualität, die Erziehung einwirken. Nichts Menschliches ist ihm fremd.« Und das ist sein Hauptproblem. Die Hygienebewegung bleibt trotz ihrer Größe und ihres Ehrgeizes »schwach, sie gleicht einer Armee, die eine sehr lange Grenze verteidigen will, indem sie sich zerstreut. Ihr fehlt ein Mittel, um ihre Kräfte an einigen wenigen Punkten zu bündeln.« Aus diesem Grund wird die Bakteriologie, die es ermöglicht, die Ansteckungspunkte sehr genau zu lokalisieren, zum wesentlichen Verbündeten der bereits auf dem Vormarsch befindlichen Hygienebewegung. Erster Moment: Die Stärke der Pasteurianer besteht darin, die Interessen der Hygienebewegung erfasst und »übersetzt« zu haben. Zweite Etappe der Analyse: Wie können wir die Geschwindigkeit und den Enthusiasmus erklären, mit der die Hygieniker die Argumente Pasteurs aufgriffen? Weit entfernt vom Mythos eines Pasteur, der allein gegen die Finsternis des Obskurantismus kämpft, schildert Latour die einhellige Aufnahme seiner Entdeckungen, die sich aufgrund der Größe der sozialhygienischen Bewegung, (…) rasch verbreiteten. Einige wenige Gegner versuchten, sich gegen den »Staatsstreich Pasteurs, der sich mühelos der Medizin bemächtigt« habe, zu wehren, und kritisierten, nicht ganz zu Unrecht, übereilte Verallgemeinerungen. Aber Pasteur triumphierte, weil er »schon Sprecher, Namensgeber, Verstärker einer riesigen sozialen Bewegung ist, der leidenschaftlich wünscht, daß er Recht behält, und daher all seinen Laboratoriumsarbeiten eine wahrhaft ›unglaubliche‹ ›Hast‹ und ›Verallgemeinerung‹ verleiht.« Weil sie in der Bakteriologie und im Pastorismus einen Anhaltspunkt findet, konzentriert die Hygienebewegung ihre Kräfte an einigen wenigen Orten und kann so sowohl die atemberaubende Morbidität der Städten als auch Epidemien wirksam bekämpfen, die die Tierherden auf dem Land heimsuchen. Es ist leicht zu verstehen, warum die Hygienebewegung die Entdeckungen der Pasteurianer so schnell verbreitete: Sie ermöglichten es, sehr schnell sanitäre Maßnahmen und Techniken durchzusetzen, die sich nun endlich auf auffindbare Feinde richteten, nämlich auf Mikroben. So spricht man in den Annales de l’Institut Pasteur von »Käse, Bier und Wein, Enzymen und Stickstoff; aber auch von den Quellen der Seine, die Bakterien enthalten; von Phagozyten und Präzipitinen; und auch von Tuberkulosewunden; und auch von den Mücken der pontinischen Sümpfe oder von Rattenflöhen in Madagaskar«. (ÜS KS) Es ist diese außergewöhnliche Heterogenität ihrer Objekte, die die Pasteurianer vor anderen Disziplinen auszeichnet. Sie nehmen Anleihen bei Hygiene, Medizin, Soziologie, Anthropologie, Industrie, Chemie und Zoologie während sie den Akteuren, an denen sie interessiert sind, den Mikroben, einfach ohne Ablenkung folgen. Was tun Mikroben? Sie weichen ab, unterbrechen menschliche Handlungen, lassen Menschen ihren Zweck verfehlen, verursachen dort den Tod, wo Handel, Leben, Viehzucht oder Liebe erwartet werden. Kurz gesagt, sie betreten eine Welt, von der man dachte, sie sei nur menschlich und zwingen uns, unsichtbare, unberechenbare nicht-menschliche Wesen zu berücksichtigen, die keinen Kodex, keine sozialen oder nationalen Barrieren respektieren. »Es gibt nicht nur ›soziale‹ Beziehungen, Beziehungen von Mensch zu Mensch. Menschen sind in der Gesellschaft nicht ›unter sich‹. Es gibt nicht nur einen Eskimo und einen Anthropologen, einen Vater und sein Kind, eine Hebamme und ihre Klientin, eine Prostituierte und ihren Kunden, einen Pilger und seinen Gott, nicht zu vergessen Mohammed, seinen Propheten. Während all diese Beziehungen, diese persönlichen Begegnungen, diese Duelle, diese Verträge sich ereignen, agieren andere Akteure, schließen ihre Verträge, setzen ihre Ziele durch und definieren das soziale Band neu und anders. Der Cholera ist Mekka gleichgültig, doch sie begibt sich nach dort in den Eingeweiden des Hadschi; der Pararauschbrand-Bazillus hat nichts gegen die Gebärende, doch für ihn ist es nötig, daß sie stirbt.« Diese neuen Akteure zwingen die Gesellschaft, sich anders zu konfigurieren: »Um wirksam von Mensch zu Mensch zu handeln, d.h. nach Mekka zu gehen, im Kongo zu überleben, gesunde Kinder zu gebären, männliche Regimenter zu erhalten, muß man den Mikroben ›Platz machen‹.« Die große Überraschung des Pastorismus‘ besteht darin, Milliarden anderer Akteure auf die Weltbühne zu holen, die handeln, die Ziele verfolgen, die uns unbekannt sind, und die uns benutzen, um zu gedeihen. Die Pasteurianer und ihre hygienebewegten Verbündeten sind daher gezwungen, das soziale Band neu zu gestalten, um Mikroben einzubeziehen, so wie der Wissenschaftsanthropologe gezwungen ist, seine Disziplin neu zu begründen, um Platz für nichtmenschliche Wesen zu schaffen: »Wir sind zahlreicher, als wir dachten.« In diesem Text entwickelt Latour ein methodisches Prinzip, das für seine Arbeit zentral ist: »Es ist hier entscheidend, Natur und Gesellschaft symmetrisch zu behandeln und damit aufzuhören an einen Unterschied zwischen natürlichen und sozialen Akteuren zu glauben. Ohne diese Symmetrie ist es unmöglich zu begreifen, dass es eine Geschichte nichtmenschlicher Akteure ebenso gibt wie eine Geschichte menschlicher Akteure.« (ÜS KS) Mikroben sind Akteure, die uns zwingen, die Gesellschaft »anders zu rekonstruieren« (ÜS KS), eine anthropozentrische Perspektive zu verlassen und jenen Unsichtbaren Platz zu machen, die systematisch von dem abweichen, was wir für einfache Bahnen hielten: »Wenn wir Beziehungen erhalten wollen, die von nichts aus der Bahn geworfen werden, müssen wir die Mikroben so umlenken, dass sie nicht mehr überall die Beziehungen unterbrechen. (…) Um den Preis der punktgenauen Einrichtung neuer Berufe, Institutionen, Labors und Know-hows werden wir gut kanalisierte Ströme von Mikroben und gut kanalisierte Ströme von Pilgern, Bier, Milch, Wein, Schulkindern und Soldaten erhalten«. (ÜS KS) Es sind diese gut kanalisierten Ströme, die Covid-19 jetzt verhöhnt, und es sind all unsere menschlichen Ströme, die er in wenigen Tagen zu unterbrechen vermochte. Die einzige Möglichkeit, dieser Störung entgegenzuwirken, bestand in Ermangelung eines Impfstoffs darin, genau diese Flüsse, diese Ströme, diesen Austausch anzuhalten. In diesem Kampf gegen einen Feind, der schlussendlich identifiziert wurde, spielt das Labor eine entscheidende Rolle. Das allgemeine Prinzip ist einfach, es ist das Prinzip eines jeden Sieges: Man muss den Gegner auf jenes Territorium führen, das man unter Kontrolle hat. Der eigentliche Beitrag der Pasteurianer bestand darin, dass sie die Krankheiten auf das einzige Gebiet verlagert haben, das sie beherrschen: das Labor. Das Pasteur‘sche Labor ist so eingerichtet, dass es unsichtbare Akteure wahrnehmbar machte, indem es ihnen ein ideales Entwicklungsmilieu bot, da sie nicht mehr in Konkurrenz zu anderen Lebewesen standen. Es ist ein »Theater des Beweises«, im primären Sinne des Wortes Theater, ein Ort der Sichtbarkeit. (…) Vor allem aber ist es ein Ort, an dem die Mikroben, exponiert und damit endlich sichtbar sind. »Gebt mir ein Labor und ich werde die Welt aus den Angeln heben«. Dieser Titel eines Artikels von Bruno Latour, der ein Jahr vor Les Microbes veröffentlicht wurde, fasst seine Analyse des Labors als Ort der Umkehrung von Kräften zusammen: Die zu untersuchenden Phänomene werden hier soweit verkleinert, dass man sie unter Kontrolle hat; der Mensch beherrscht das Nichtmenschliche, weil er es isoliert, kultiviert und so messen kann. Darüber hinaus ist das Labor ein Ort der Vereinfachung und Visualisierung von Problemen: Unabhängig von der Größe der Phänomene enden diese immer in leicht lesbaren Transkriptionen, die von einigen wenigen Personen diskutiert werden, die alles »vor Augen« haben. Das Labor ermöglicht es, ein Element aus der realen Welt herauszunehmen und es in ein neues, aber für dieses Element günstiges Milieu zu verpflanzen, in dem nichts anderes den Blick verstellt. Diese entscheidende Analyse des Labors wird in Irréductions (Irreduktionen), dem philosophischen Traktat, das den ersten Teil des Pasteur-Buches erweitert und fortsetzt, aufgegriffen und verallgemeinert. Mit der Analyse des Labors als Hebel des Archimedes verwandelt Latour es in einen politischen Ort, an dem WissenschaftlerInnen Laborobjekte mit den Objekten der Welt kommensurabel machen können und es dann schaffen, durch die Manipulation von Laborobjekten die Welt in Bewegung zu setzen. (…) Das Labor ist ein »Theater des Beweises«, das auch ein Theater der Bewährungsprobe ist, ein Kräftemessen dem die untersuchten Organismen unterworfen werden. An der berühmten »Station von Pouilly Le Fort« bringen die Pasteurianer ihr Labor, ihre Ausrüstung, ihr Protokoll in die zu untersuchende Umgebung hinein. Das Laboratorium lernt viel von der Praxis, aus der es einige Elemente entnimmt, die es unter neuen Bedingungen reproduziert. Pouilly Le Fort liegt zwischen dem Pariser Laboratorium und dem burgundischen Feld, das die Bauern kennen, und ist jener Ort, an dem das archimedische Hebelphänomen zum Tragen kommt. Die Einrichtung muss derjenigen im Pariser Laboratorium zugleich ähnlich genug sein, um die Kontrolle und Überwachung von Mikroben durch Impfung sicherstellen zu können, und hinreichend unterschiedlich, sodass man Pasteur nicht vorwerfen kann, mit »Labormikroben« gearbeitet zu haben. Wenn es das Laboratorium in der Rue d’Ulm ist, das »die unsichtbaren Akteure sichtbar macht«, so ist der Bauernhof in Pouilly Le Fort der öffentliche, spektakuläre und schillernde Schauplatz, an dem die beispiellose Beherrschung des endlich enttarnten, »unsichtbaren Feindes« in Szene gesetzt wird. Wenn man mit Latour von Pasteurs »Genie« sprechen kann, dann deshalb, weil er ein Regisseur dieses Theaters des Beweises ist: Pasteur erfindet und dramatisiert Experimente, um möglichst viele Menschen dazu zu »zwingen«, sich den Beweisen seiner spektakulären Demonstrationen zu ergeben, die auf einigen äußerst einfachen Gegensätzen beruhen: Abwesenheit/Anwesenheit, vorher/nachher, lebendig/tot, Reinheit/Unreinheit. (…)  Die Verlagerung des Laboratoriums in die burgundische Landschaft, nach Pouilly Le Fort, wo die Milzbrandepidemie wütete, war ebenfalls entscheidend: Als Ort des experimentum crucis, an dem die Gültigkeit der Hypothesen Pasteurs auf die Probe gestellt wird; dann aber die Rückkehr in die Rue d’Ulm, um von dort aus Impfstoffe und neue Pasteurisierungspraktiken verbreiten zu können. Warum Krieg und Frieden? Der Verweis auf Tolstoi ist kein Zufall. Tolstois Krieg und Frieden führt als erzählerischer roter Faden durch das gesamte Buch und rahmt die Schilderung der wissenschaftshistorischen Episode, die Latour hier interessiert: Les Microbes. Guerre et Paix ist sowohl ein Geschichtsbuch als auch ein discours de la méthode, ein Manifest für eine neue Art von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie. Es ist vor allem eine radikale Absage an jeglichen Reduktionismus: an die großen makrohistorischen Erzählungen, an die Erklärung von Wissenschaftsgeschichte durch Revolutionen, an epistemologische Brüche und an große Männer. Daher die Wahl einer Figur, Pasteur, und eines präzisen Ereignisses, die Entdeckung von Mikroben (»die am wenigsten strittige Episode in der Geschichte der Wissenschaft«), um a fortiori zu argumentieren. In der Tat scheint Pasteur das perfekte Beispiel für eine »wissenschaftliche Art des Überzeugens, jenseits von Kompromissen, vom Herumprobieren und von Streitigkeiten« (ÜS KS) zu bieten. Latour nimmt die Figur nicht auseinander. Er geht anders an sie heran, zeigt Pasteurs Bewegungen, seine Netzwerke, seine Verbündeten und erzählt damit eine ganz andere Geschichte als die des einsamen Wissenschaftlers. In der Tat bietet der Verweis auf Tolstoi ein Modell der Kritik am »großen Mann«, sei es Napoleon oder der »große Gelehrte«, der Frankreich regenerierte. Tolstoi weigerte sich, in Napoleon die geschichtliche Vernunft zu sehen. Er prangerte eine auf den Kopf gestellte Welt an, die behauptet, dass ein Mann alleine Berge versetzen kann. Latour folgt Tolstoi explizit und breitet die Bündnisse, Schachzüge, gewaltsamen Coups, Glückstreffer und Pokergewinne aus, die Pasteurs Position nach und nach gefestigt haben. Gegen das Heldentum, das einem einzelnen Mann immense Umwälzungen zuschreibt, folgt Latour Tolstoi und zeigt, wie die Menge einen Berg versetzt, wenn ein Mann allein es nicht kann. Die Menge um die es hier geht, ist diejenige, die sich aus der Annäherung zweier bis dahin klar voneinander unterschiedener Bewegungen ergab: Pasteurianer auf der einen und die von ihnen ›übersetzte‹ Hygienebewegung auf der anderen Seite. (…) Es geht darum, den Multituden ihr Gewicht, ihre Rolle, ihre Effizienz zurückzugeben, gegen das klischeehafte Bild vom großen Wissenschaftler, der einsam in seinem Laboratorium die Gesellschaft durch die alleinige Kraft seines Geistes verwandelt. »Wenn am Ende des 19. Jahrhunderts ganz Europa seine Existenzbedingungen verändert, kann man die Effizienz dieser berühmten Umwälzung nicht dem Genie eines einzigen Menschen zuschreiben; man kann dagegen verstehen, wie der Mensch der Umwälzung gefolgt ist, sie begleitete, ihr manchmal voraufgegangen (sic!) ist, und daß ihm dann im Nachhinein die ganze Verantwortung dafür zugeschrieben wurde.« Latour lehnte die bestehenden historischen Erklärungen ab, die sich auf die Figur des großen Gelehrten stützten, und ersetzte sie durch Kräfte und Akteure. Als Sprecher und Verstärker einer bereits existierenden Bewegung gelang es Pasteur, die Interessen eines großen Teils seiner ZeitgenossInnen zu erfassen und ein Theater der Beweise aufzubauen, das seinen Erfolg spektakulär machte. In dieser historischen Analyse der Macht besteht der zentrale Gedanke darin, Pasteur in die Vielzahl der Kräfte zu zerlegen, die ihn möglich gemacht haben – die Hygieniker, die Militärärzte, die PatientInnen, die Bauern und Bäuerinnen, die Keime, das imperiale Regime. Es ist kein Widerspruch, die Macht Pasteurs zu brechen und gleichzeitig seinen Einfallsreichtum anzuerkennen. Wir müssen dadurch unser Verständnis von Macht neu überdenken. Macht ist kein mysteriöses Reservoir, aus dem große Männer schöpfen, sondern das Ergebnis lokaler Verbindungen zwischen vielen Akteuren. (…) Aus dem Französischen von Katrin Solhdju, Zitate, wenn nicht anders vermerkt i.d. Übersetzung von Gustav Roßler. Zuerst im März 2020 in französischer Sprache bei AOC erschienen.